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Koramu-Sonderausgabe

Artikel erstellt von Jens Sobotta am 19.03.2011
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Als wären Erdbeben und Tsunami noch nicht schlimm genug, reißen bis heute leider nicht die Hiobsbotschaften aus dem Land der aufgehenden Sonne ab. Bereits kurze Zeit nachdem die Küsten vom Tsunami getroffen wurden, fiel das Kühlsystem im Atomkraftwerk Fukushima Daiichi aus, das lediglich rund 160 Kilometer von Tokyo entfernt liegt. Grund hierfür war der Verlust der Stromversorgung, die durch die Naturkatastrophe zerstört wurde. Zuvor hatte man sich bemüht, die Notstromversorgung anzuwerfen, um Kühlwasser in die Reaktoren zu pumpen, doch dieses Vorhaben schlug bekanntlich fehl. Zwar schalteten sich die Reaktoren, wie auch elf andere Atomkraftwerke automatisch ab, doch die Brennstäbe im Inneren müssen über einen langen Zeitraum weiterhin gekühlt werden. Geschieht dies nicht, kommt es zu einer Kernschmelze. Dabei erhitzen sich – vereinfacht ausgedrückt – die Brennstäbe, die eigentlich die Atomenergie liefern und Uran sowie Plutonium enthalten, deren radioaktiver Zerfall Energie erzeugt. Erhitzen sich die Brennstäbe zu sehr, schmelzen sie. Diese geschmolzene Masse senkt sich dann zu Boden und kann sich durch die Betonwände des Reaktors fressen; mehrere Barrieren, wie etwa eine doppelte Betonkuppel, sollen das verhindern. Gleichzeitig steigt durch die Hitze aber auch der Druck im Inneren des Kraftwerks. Um eine Explosion zu verhindern, hat der Betreiber Tepco kontrolliert radioaktiven Dampf abgelassen. Nach Regierungsangaben soll die dabei freigesetzte Strahlenmenge für die sich in der Nähe befindende Bevölkerung nicht gesundheitsgefährdend gewesen sein, die Skepsis an dieser Aussage war aber – wenig überraschend – selbstverständlich vorhanden. Um eine Kernschmelze zu verhindern respektive abzuschwächen, versucht man derzeit die Reaktoren u.a. mit Meerwasser zu kühlen, wofür natürlich funktionierende Pumpen für die Ein- wie Ausfuhr des Wassers benötigt werden.

Diese Hiobsbotschaften der letzten Tage sind fest in unseren Gedächtnissen gespeichert: Brände, Wasserstoffexplosionen an den Außenwänden der Fukushima-Reaktoren, das Versagen der Kühlsysteme. Derzeit befinden sich nur noch 50 Tepco-Mitarbeiter auf dem Gelände. Wie einsame Samurais versuchen sie das Schlimmste, den drohenden Super-Gau, zu verhindern. Laut einem Bericht der BBC arbeiten sie deshalb in Schichten und mit hochentwickelten Strahlenanzügen, um die Strahlenbelastung zu begrenzen. Wie lebensgefährlich das ist, muss ich an dieser Stelle wohl nicht weiter betonen. Die japanische Regierung weitet derweil die Evakuierungszone um das AKW in Fukushima immer weiter aus; fordert die Bevölkerung außerhalb dieser Zone auf nicht das Haus zu verlassen und Fenster sowie Türen zu schließen. Im japanischen Fernsehen werden derweil Tipps für einen etwaigen Gau gesendet. Unter anderem rät man kein Leitungswasser zu trinken, die Haut mit mehreren Lagen Kleidung zu bedecken sowie diese regelmäßig zu wechseln und einen Mundschutz zu tragen, um radioaktive Partikel nicht einzuatmen. Zudem soll häufig geduscht (vor allem die Haare) sowie nach Möglichkeit das eigene Haus häufig mit Wasser abgespritzt werden. Dass diese Tipps nur für eine Minderung einer möglichen (hohen) Strahlenbelastung sind, versteht sich von selbst. Tatsächlich wurde bei einigen Menschen schon eine erhöhte Strahlenbelastung festgestellt, nach diversen Angaben sollen aber kaum schwere Kontaminierungen bei ihnen festgestellt worden seien. Beruhigend und trotzdem, eben wegen der Bilder, depressiv zugleich. Man wünscht es den Menschen nicht. Schaut man ihnen in die Augen, bemerkt man ihre Angespanntheit, ihre Angst, ihre Zweifel, aber auch ihren Frust. Und dennoch wirken sie gelassen. Bloß nicht das Gesicht verlieren, weiterhin solidarisch und stark sein – zusammen überstehen sie diese Katastrophe.

So waren die ersten Bilder für manch einen, der sich nicht sonderlich mit der Mentalität der Japaner auskennt, mitunter sehr verblüffend. Keine Panik, keine herumschreiende, durch die Gegend rennende Menschen. Stattdessen geordnete Gruppen und eine gewisse Gelassenheit in ihren Gesichtern. Selbst jetzt, nachdem das japanische Fernsehen erste Bilder von den Opfern, die ihren zerstörten Gebieten nach Freunden und Familienangehörigen oder ihren Halbseligkeiten suchen, in Tränen aussprechen, verzweifelt durch die Gegend blicken, strahlen sie eine gewisse Ruhe aus. Man will sein Gesicht nicht verlieren und wahrt die eigene Haltung. Das Gleiche gilt für diejenigen, die in den Notunterkünften untergebracht wurden. Man merkt ihre Angst an, und dennoch bleiben sie ruhig und reagieren nicht panisch. NHK strahlte ein Interview mit einer Frau aus, die im Lächeln erklärte, dass sie eigentlich Wasser kaufen wollte, doch der Laden keines mehr übrig hätte. In einer Schlange stehen über hundert Japaner; das Geschäft hat einen Ausgabestand vor der Eingangstür geöffnet. Keiner drängelt sich vor, man wartet artig bis man an der Reihe ist. Das gleiche Bild vor einer Tankstelle. Die Menschen möchten ihre Tanks auffüllen, um vor einer möglichen radioaktiven Bedrohung zu flüchten. Da das Benzin knapp ist und für alle reichen soll, erhält jeder nur zehn Liter. Das ist besser als nichts und vor allem gerecht. Über die japanische Facebook-Seite bittet die Regierung die Bevölkerung von Hamsterkäufen abzusehen, da genügend Lebensmittel für alle vorhanden sind und jeder, insbesondere die Opfer in den Notunterkünften, versorgt werden sollen. Auf YouTube tauchen hier und da Videos von leeren Supermarkt-Regalen in Tokyo auf, die deutschen Medien interpretieren dies als Notstand, obwohl es genügend Gegenbeispiele für noch gut bestückte Regale gibt. Selbst einer der Moderatoren des Senders Phoenix warnt vor fälschlichen Aussagen auf Twitter und YouTube – ich stimme zu. Tokyo ist dennoch gespenstisch leer. Man schaut gespannt die Nachrichtenkanäle, begibt sich nur wenn unbedingt nötig nach draußen. Zoos, Museen sowie Stadtparks sind derzeit geschlossen, auch um die Sicherheit bei möglichen Nachbeben zu gewährleisten. Denn diese erschüttern Tokyo und andere Regionen des Landes ständig, zum Glück bislang nur in den für die Japaner bekannten, für unsereiner aber noch immer hohen Stärken von 4,0 bis 7,0 auf der Richterskala. Das Bild mancher deutscher Medien, dass kaum jemand mit den Zügen unterwegs ist, ist falsch. Tatsächlich fahren derzeit weniger Züge als sonst, weshalb die noch immer hohe Anzahl an täglich pendelnden Personen sich auf die wenigen Züge aufteilen muss. Folglich sind die Bahnen überfüllt. Hideo Kojima twitterte beispielsweise, dass er, auch weil er sein Haus spät verlassen hatte, mit einem überfüllten Zug zur Arbeit fuhr.

Aber, ach, die deutschen Medien. Ich weiß nicht, ob ich mich aufregen oder einfach nur weinen soll. Man könnte fast meinen, nahezu alle Sender und Online-Portale haben das schwere Erdbeben sowie den katastrophalen Tsunami vergessen. Alles dreht sich um Fukushima; bereits am Freitag sprachen einige vom Super-Gau. Man verbreitete Panik, zog selbsternannte Experten von Greenpeace, irgendwelchen Professoren oder Physiker vors Mikrofon und ließ sie die Lage im AKW Fukushima analysieren. Wohlgemerkt aus Deutschland. Ohne Kontakt nach Japan. Ohne Quelle für ihre Argumente. Und falls man mal doch eine hatte, waren es irgendwelche Vorortinformationen, die man so nicht überprüfen konnte. Jedes Gerücht wurde gleich für bare Münze genommen, ohne es als das was es ist – ein Gerücht – abzudrucken bzw. zu senden. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, dass man sich wünscht, dass noch etwas Schlimmeres passiert, oder sich Japaner etwas Medien-freundlicher, sprich mit mehr Panik und dergleichen benehmen würden. Widerlich! Von Plünderungen hat man beispielsweise überhaupt nichts gehört. Vermutlich weil es keine gibt. In anderen Ländern, wenn es zur Katastrophe kommt, sind die Nachrichten voll davon.

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